Der Mond. Für die meisten Menschen war er nicht mehr als ein weiterer Himmelskörper, der Trabant, der die Erde auf ihren Bahnen um die Sonne begleitete oder eine Lichtquelle bei Nacht, wenn keine Wolken ihn verdeckten und sein Schein somit gut sichtbar für sie war. Für Tia war er allerdings so viel mehr. Ihre Heimat. Der Ort, an dem einst die Personen lebten, die ihr nahestanden. Ihre Familie und Freunde. Der Ort einer glücklichen und unbeschwerten Kindheit. Und der Ort, den sie nun wie alle anderen nur noch aus der Ferne betrachten konnte und dessen Anblick nicht nur Heimweh und Wehmut in ihr weckten, sondern auch eine Schuld, bei der sie nicht wusste, wie sie mit ihr umgehen sollte…
Alles begann vor nicht einmal zwanzig Jahren. Die Menschen feierten in einigen Teilen der Welt das Mondfest, als eine kleine Prinzessin auf dem verehrten Himmelskörper das Licht der Welt erblickte. Tia war das zweite Kind der Königin des Mondes Miray. Das zweite Mädchen, über das sie sich jedoch genauso sehr freute, wie über ihre erste Tochter Amaira. Gut behütet wuchs sie im Kreise ihrer Familie und vielen Bediensteten auf, die sich um ihr leibliches Wohl kümmerten. Zudem erhielt sie viele Freiheiten, die ihrer großen Schwester nicht vergönnt waren, da diese in der Thronfolge vor ihr stand und somit die Herrschaft von ihrer Mutter erben würde. Tia hingegen genoss die fehlenden Verpflichtungen und die Zeit, die sie für Dinge nutzen konnte, die ihr Spaß machten, auch wenn sie damit das Unverständnis und den Neid von Amaira auf sich zog. Sie ignorierte es und verbrachte ihre Tage damit, die Menschen auf der Erde zu beobachten. Besonders die Kunst und die Musik hatten es ihr angetan, genauso wie das eine oder andere übernatürliche Volk, das unbemerkt von den Menschen auf dem Planeten lebte. Zu gern hätte sie all dies einmal aus nächster Nähe betrachtet, doch selbst einen Fuß auf die Erde setzen durfte sie nie. Zwar besaß der Palast, in dem sie lebte, einen magischen Spiegel, der wie ein Portal funktionierte, doch laut ihrer Mutter war es zu gefährlich für sie, den Mond zu verlassen, obwohl sich auch andere Bewohner auf diese Reise begaben, die sie gerne einmal machen würde. Doch die Wachen taten alles dafür, um sie so weit wie möglich vom Portalraum fernzuhalten, damit sie nicht auf dumme Ideen kam und sich heimlich der Anweisung der Königin widersetzte. Nicht nur einmal fühlte sie sich aus diesem Grund besonders in ihrer Jugend wie in einem goldenen Käfig, auch wenn sie wusste, dass ihre Mutter nur das Beste für sie wollte und um ihre Sicherheit besorgt war.
Umso weniger ließ sich Tia davon abhalten, die Delegation unter die Lupe zu nehmen, die eines Tages auf dem Mond ankam, obwohl sie zu dieser Zeit krank im Bett lag. Die Gesandtschaft bestand aus dem Prinzen der Winterfae und seinem Gefolge und auch wenn sie damals erst 14 war, konnte sie kaum die Augen von Aranel nehmen. Sein hübsches Antlitz zog sofort ihre Aufmerksamkeit auf den Prinzen, doch sie war nicht die Einzige, die sich für den Fae interessierte. Während des Balls, der zu Ehren ihrer Gäste veranstaltet wurde, klebte Amaira förmlich an ihm. Tia konnte sich das Schauspiel kaum mit ansehen, dem sie nur folgen durfte, weil ihre Mutter der Ansicht war, dass es ihr für den Ball gut genug ging. Zu ihrer Überraschung lag Aranels eigenes Interesse jedoch nicht auf der ältesten Prinzessin sondern auf ihr und so kam es, dass er sie in einem geeigneten Moment zu einem Tanz aufforderte, der ihr gesamtes Leben veränderte, denn während ihre Heimat die Menschen auf der Erde in Form eines Super-Blauen-Blutmondes begeisterte, verlor sie ihr Herz an den Prinzen der Winterfae. Welch großer Fehler dies war, sollte sie jedoch erst drei Jahre später erfahren…
Als die Delegation rund um den Prinzen den Mond wieder verließ, versprach er ihr, zurückzukommen und eines Tages, wenn sie alt genug war, um ihre Hand anzuhalten. Tia konnte ihr Glück kaum fassen und sie genoss jedes einzelne Treffen, auch wenn diese durch Aranels Verpflichtungen sehr rar waren. Dafür brachte er ihr bei jedem Besuch ein Geschenk von der Erde mit - unter anderem auch ein Diadem, wie es die Prinzessinnen der Winterfae trugen. Und mit jedem Wiedersehen verliebte sie sich mehr in ihn und genauso wie dieses Gefühl wuchsen auch die Sehnsucht nach ihm und der Wunsch, Aranel auch außerhalb der offiziellen Besuche mit seinem Gefolge zu sehen. Aus diesem Grund schmiedete sie einen Plan, wie sie unbemerkt an den Portalwachen vorbei und zum Portal kam, um den Fae heimlich auf den Mond zu lotsen. Selbst auf die Erde zu gehen, traute sie sich hingegen nicht, da sie bei ihrer Rückkehr nicht garantieren konnte, nicht entdeckt zu werden. So machte sie mit Aranel einen Tag aus, an dem er zu ihr kommen konnte, als dieser wieder einmal mit einer Delegation zu Besuch kam. Ohne zu zögern nahm er das Angebot an und als der Tag gekommen war, lief alles genau so, wie Tia es geplant hatte. Zumindest bis zu dem Moment, an dem sie das Portal öffnete, um Aranel hindurch zu lassen, denn anders als erwartet kam er nicht alleine. Hinter ihm traten weitere Fae durch den Spiegel. Sie alle trugen die Rüstung ihres Volkes, die sie nur anlegten, wenn sie in den Kampf zogen. Tia war vollkommen überrumpelt und war nicht imstande, etwas anderes zu tun, als den Mann, dem ihr Herz gehörte, anzustarren. Aranel blickte sie ebenfalls an, entschuldigte sich bei ihr und anschließend brachte er das Chaos in ihr Heim, das zum Untergang ihrer Heimat führte.
Nur durch das Opfer einer der Wächter konnte sie ihr eigenes Leben retten, nachdem sie sowohl ihre Schwester als auch ihre Mutter hatte sterben sehen. Sie wollte nicht weg und doch musste sie, denn sie wusste, wenn sie es nicht tat, würde sie ebenfalls sterben. Das Letzte, was sie sah, bevor sie durch das Portal trat, waren die glänzende Rüstung des Prinzen und seine stechend blauen Augen, die ihren eigenen so ähnlich waren.
Auf der Erde angekommen, fühlte sie sich gelähmt und hilflos. Sie wusste nicht, wohin sie sollte, und als wollte das Leben sie für ihre Naivität bestrafen, trat ein weiterer Mann in ihr Leben, der es alles andere als gut mit ihr meinte, auch wenn er dies nach außen hin so kundtat. Xaldin, der sich als erfolgreicher Geschäftsmann und Vampir herausstellte, bot ihr ein Dach über dem Kopf. Eine Zuflucht in einer Welt, die ihr vollkommen fremd war, und verzweifelt wie Tia war, nahm sie das Angebot an. Nicht ahnend, dass sie den nächsten Fehler beging…